Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Mein Steam-Account weist einige Spiele auf, die ich noch nie gespielt habe. Und dann wieder einige, bei denen teilweise mehrere hundert Stunden zu Buche stehen. Und da rede ich nicht von den Spielen, an denen ich mitentwickelt habe, wodurch natürlich sogar vierstellige Spielzeiten zustande kommen können. Ich rede von Spielen, die ich mehrere hundert Stunden lang tatsächlich gespielt habe. So lange, dass meine übliche Ausrede, ich müsse ja auch die Konkurrenz beobachten, ziemlich lächerlich wurde.

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Wenn der Mensch im Schnitt 16 Stunden am Tag wach ist, haben mich diese Spiele also Wochen meiner Lebenszeit gekostet. Und da möchte ich doch mal die Frage stellen: Dürfen die das?

Rein juristisch ist die Frage klar: natürlich dürfen die das. Sie machen mir ein Angebot, und als voll geschäftsfähiger, erwachsener Mensch liegt es an mir, dieses Angebot anzunehmen oder abzulehnen. Niemand zwingt mich, und bei Steam kann ich ja sogar innerhalb der ersten zwei Spielstunden entscheiden, das Game wieder zurückzugeben. Ich rede also nicht notwendigerweise von Betrug oder anderen im juristischen Sinne sittenwidrigen Vorgängen.

Als Game Designer sollte ich mir die Frage, ob ich so viel Lebenszeit anderer Menschen in Anspruch nehmen darf, aber dennoch stellen, wenn auch nicht in juristischer, sondern in ethischer und ästhetischer Hinsicht. Denn tatsächlich erschaffen Games als Kunst- und Unterhaltungsform in dieser Hinsicht eine neue Qualität der Auseinandersetzung zwischen Werk und Rezipient:

  • Ein Musikstück dauert heute in der Regel 3 ½ Minuten und als Sinfonie eine Stunde
  • Ein Film, insbesondere im Popcornkino, ist nach 2-3 Stunden und 1500 Kalorien in Form von Cola und Süßkram abgefeiert.
  • Ein Theater- oder Opernbesuch dauert drei Stunden zuzüglich einem Glas Wein mit Freunden in der Bar neben dem Theater, während man so tut, als verstünde man was von Dramaturgie.
  • Ein Roman, auch ein dicker, kostet selten mehr als zehn Stunden Lesezeit. Irgendjemand ruft jetzt „Dostojewski!“ dazwischen oder – siehe Überschrift der Kolumne – „Proust!“. Aber ganz ehrlich: Wer liest die schon zu Ende? Außer – im Falle Dostojewski – ich.
  • Ein Spiel allerdings, das weniger als zehn Stunden dauert, wird oft dafür kritisiert. Und die Games, in die wir uns vergucken, die spielen wir dann – siehe oben – gerne auch zehn- oder zwanzigmal so lange. Sie begleiten uns über Tage und Wochen, manchmal Jahre hinweg, wir werden Teil ihrer Community (was zusätzlich Zeit kostet), sie beschäftigen uns in unseren Träumen und sogar bei der Arbeit oder in der Schule.

Natürlich gibt es auch die professionelle, teils über Jahre anhaltende Beschäftigung mit jeder dieser Kunstformen. Wahrscheinlich sind ganze Bibliotheken alleine über jene 123 Sekunden vollgeschrieben worden, die McCartneys „Yesterday“ dauert. Es geht aber nicht um Zeit, die ein Rezipient als Teil seines Berufes aufwendet.

Ein Buch – selbst eines mit Text statt Flora-Zeichnungen als Inhalt – verlangt in der Regel etwa zehn Stunden unserer Zeit. Viele Spiele liegen da deutlich drüber. Auch ohne viel Text! (Bild: pixabay.com)

Zunächst einmal geht es schlicht um die Frage: Was maße ich mir als Game Designer eigentlich an, dem -– nicht professionellen – Spieler potenziell Wochen seines Lebens zu entreißen? Was biete ich ihm, damit ich hinterher ehrlich sagen kann: Ich verkaufe etwas, das mehr ist als nur eine Droge, mehr als intellektueller Plastikmüll. Was gibt mir das Recht zu sagen: Ich bin nicht wie der Zigarettenhersteller, dem es egal ist, dass er seinem Kunden am Ende statistisch betrachtet fünf bis sieben Jahre seines Lebens geraubt hat. Ich biete dem Spieler einen Gegenwert für die investierte Zeit. Etwas, das sein Leben bereichert, besser macht – oder zumindest nicht verschlechtert oder gar verringert.

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