Tote Agenten – Rote Pillen

Manchmal wünsche ich mir, The Matrix wäre nie gedreht worden, und irgendwelche Dummköpfe könnten mir nicht alle paar Tage mit irgendwelchen Verschwörungstheorien die Zeit stehlen, die sie dann, um cool zu wirken, als “rote Pillen” bezeichnen. Popkultur kann extrem nervig sein, vor allem, wenn sie Idioten in die Hand fällt.

Der neue Call of Duty-Trailer ist so eine rote Pille. Zumindest, wenn man Gamer Gate-affinen 12-Jährigen Glauben schenkt – und solchen die zwar vom Geburtsdatum her älter sind, aber hirnphysiologisch offenbar nie über die frühe Pubertät hinausgekommen sind.

Full Disclosure: Jeder meiner regelmäßigen Zuhörer weiß, dass ich Call of Duty nicht mag. Und deshalb verspreche ich, mich keine Sekunde lang über das Spiel auszulassen, zumal es zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Kolumne ja nicht einmal erschienen ist. Wer also Angst hat, ich würde den Trailer für einen Verriss des Spiels nutzen, kann beruhigt wieder ausatmen.

Und der Teaser-Trailer verrät ja tatsächlich auch nichts, absolut gar nichts über das Gameplay des Spiels. Er zeigt keinen einzigen Frame aus dem Spiel. Was er zeigt, sind Ausschnitte aus einem nicht fiktiven Interview von 1984 mit einem übergelaufenen KGB-Agenten namens Yuri Bezmenov. Dieses Interview wird dann mit weiteren historischen Aufnahmen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterlegt. Diese Aufnahmen zeigen emblematisch Sequenzen aus dem meist kalten und gelegentlich halt auch heißen Krieg zwischen den Großmächten zwischen 1945 und 1990. Beschworen wird dabei ein nie enttarnter KGB-Agent mit dem Decknamen Perseus, der als geradezu mythische Gefahr aufgebaut wird. Anzunehmen, dass er im Spiel eine Rolle spielen wird. Der Trailer endet mit der Binsenweisheit, dass wer aus der Geschichte nichts lernt, verdammt ist, sie zu wiederholen.

Immerhin: Einen guten Ratschlag hat der Teaser dann doch parat…

Kein gewöhnlicher Anmachtrailer

Das alles könnte ein ganz gewöhnlicher Anmachtrailer sein, um das Setting des Games zu verankern, die CoD-typische Prämisse vom für das Gute kämpfenden amerikanischen Soldaten. Interessant und leider auch obszön bzw. gefährlich wird das Ganze nicht so sehr durch diese altbekannte, schlichte Stoßrichtung beinahe aller CoD-Spiele. Brisant werden die Verwendung und das Framing dieses Interviews durch das Weglassen entscheidender Informationen. Und dieses Weglassen dockt dann wieder an meine Kolumne des letzten Monats an, denn es offenbart einen geradezu fahrlässigen und zynischen Umgang eines erheblichen Mitspielers in meiner Lieblingsbranche mit der eigenen Verantwortung – und dem Recht auf free speech.

Ich greife vor. Also erst einmal die im Trailer nicht erwähnten, aber zur Einordnung des Ganzen erheblichen Zusatzinformationen:

Da wäre zunächst der Umstand, dass dieses Interview von dem bekannten rechten Verschwörungstheoretiker G. Edward Griffin geführt wurde, einer schillernden Figur: Griffin arbeitete als Redenschreiber für Curtis LeMay, Vize-Präsidentschaftskandidat des Erz-Rassisten George Wallace während dessen Präsidentschaftskampagne 1968 in den Vereinigten Staaten. Schon vorher war Griffin durch eine geradezu abenteuerliche, in Fiktion gefasste Verschwörungstheorie über die US Notenbank aufgefallen. Danach wurde es nicht besser: Amygdalin heilt Krebs, das HIV-Virus gibt es nicht bzw. steckt nicht hinter Aids – und 9/11 war natürlich ein Inside-Job. Das ganze Programm des rechtsaffinen Verschwörungsgewutzels, das sich jüngst in QAnon bündelt und dort seine größte hirn- und sinnzerstörende Effektivität entfaltet: Verschwörungsgeraune als dadaistisches Wortgemetzel. Wobei fairerweise gesagt werden muss, dass der heute 88-jährige Griffin daran wohl keinen entscheidenden Anteil mehr hat. Er ist zumindest, soviel dürfte sicher sein, nicht Q.

Exklusiv bei The Pod: Das „Ronald Reagan reacts“-Bild zum CoD-Teaser

Verschwörungstheoretiker, Alkoholiker und andere zuverlässige Quellen

Bezmenov wusste, wem er da ein Interview gab, wem er dabei etwas von diesem ominösen Perseus erzählte. Dessen Aufgabe sei es, so Bezmenov, im damaligen Rüstungswettlauf dafür zu sorgen, dass die USA hinter der UdSSR zurückblieben. Diese Erzählung passte dem damaligen US-Präsidenten Reagan, einer historisch durchaus zwielichtigen Figur, die im nachfolgenden Reveal-Trailer zum warmherzigen Übervater und Beschützer der Freiheit hochgejazzt wird, natürlich exzellent in den Kram, betrieb er doch damals die hochumstrittene und gerade in Westeuropa durch massive Proteste begleitete sogenannte “Nachrüstung”. 300.000 Menschen hatten 1983 in Bonn gegen die entsprechenden Beschlüssen protestiert, und die Etablierung der Grünen als parlamentarische Kraft geht zu einem guten Teil auf diese Proteste zurück. Reagan konnte jede Unterstützung im politischen Kampf gegen die – wie Franz-Josef Strauss sie nannte – “Friedenswinsler” gebrauchen.

Die Legende um Perseus hatte allerdings damals schon einen erheblichen Schönheitsfehler. Perseus soll nämlich schon während des Manhattan-Projekts für die Sowjetunion spioniert haben. Das war in den 40ern, denn das Manhattan-Projekt brachte ja bekanntlich die Atombombe hervor. Während des Interviews spricht Bezmenov von Perseus allerdings als einer noch aktiven Figur. Jetzt kann ich mir viel vorstellen, aber nicht, dass jemand, der in den 40ern schon an entscheidender Stelle in einem hochgeheimen Projekt installiert ist, 40 Jahre später immer noch nicht das Pensionsalter erreicht hat. Noch weniger kann ich mir vorstellen, dass – selbst wenn der mit 25 oder jünger schon in hoher Position am Manhattan-Projekt beteiligt war – es dann nicht leicht wäre, diese Figur zu identifizieren. So viele wird es ja nicht gegeben haben, die 1944 schon diese Position hatten – und 1984 immer noch aktiv im Dienst sind. So jemand müsste sich doch finden lassen, oder?

Tatsache ist, dass Perseus in rechten Verschwörungszirkeln heute immer noch als gefährliches Implantat gesehen wird. Er müsste zwar inzwischen mindestens 100 sein, aber man weiß ja: die soziale Absicherung in den USA ist nicht so prickelnd, und da müssen halt auch 100-jährige noch arbeiten. Und Adrenochrom hält bekanntlich jung!

Der 100-jährige Superspion

Tatsache ist auch, dass es gesichert drei russische Implantate im Manhattan-Projekt gab, denn die wurden aufgedeckt und verurteilt. Eine vierte Person konnte nicht gefunden werden. Angenommen wird deshalb, dass es sich bei dieser vierten Person bereits um eine Desinformation handelte: sie wurde vom KGB erfunden und an die US-Geheimdienste durchgesickert, damit die nach Leuten suchen, die es gar nicht gab. Eine weitere Möglichkeit ist, dass Perseus der Name einer Gruppe von zusammenarbeitenden Agenten war – und diese Gruppe dann irgendwann aufflog, ohne dass man überhaupt bemerkte, jetzt Perseus erledigt zu haben.

Irgendwann kamen dann wohl auch die CIA-Leute auf diesen Trichter und begannen das zu tun, was Geheimdienste eben so tun, nämlich ihrerseits Desinformation zu betreiben. Sie verbreiteten dann wahrscheinlich Gerüchte, dass sie Perseus’ Wirken nachvollziehen könnten, aber noch nicht wüssten, wer das sei. Damit wollten sie den KGB zu dem Schluss verleiten, dass sie auf den Perseus-Trick reingefallen seien – und erreichten wegen der Stalin-bedingt hohen Fluktuation im KGB damit wohl, dass zumindest Teile des KGB selbst begannen, an Perseus zu glauben. Was auch immer davon jetzt der Wahrheit am nächsten kommt:

Genau so entstehen Legenden. Man google in einem lustigeren Zusammenhang mal den Namen Edmund Friedemann Dräcker, sozusagen die Bielefeld-Verschwörung der deutschen Diplomatie. Auch der wurde 100 Jahre alt. Das scheint gemeinsames Merkmal solcher Leute zu sein.

Fakten sind unsexy

Was bleibt, sind die Fakten. Und kurz zusammengefasst haben wir da also als Interviewer einen rechtslastigen Verschwörungstheoretiker, der die Existenz von Aids leugnet, einen laut zeitgenössischen Zeugenaussagen alkoholabhängigen KGB-Überläufer und die Legende eines Superspions, den es mit einiger Wahrscheinlichkeit nie gegeben hat, der aber ganz sicher 1984 nicht mehr aktiv gewesen sein kann – das mit dem Adrenochrom war ein Scherz – und dessen Aufgabe, die USA im Rüstungswettrennen unterliegen zu lassen dann wohl auch altersbedingt scheitern musste: 1989 brach die Sowjetunion auch unter der Last der Kosten des Rüstungswettlaufs in sich zusammen.

Aus dieser Gemengelage zaubert Activision einen Trailer, in dem Perseus zur tödlichen weil unerkannten Bedrohung der Demokratie wird, Yuri Bezmenov zu einem vollständig glaubwürdigen Kronzeugen wider die Abgefeimtheit des KGB – und in dem, das ist das entscheidende, die Rolle des Interviewers sowie die historischen Hintergründe bzw. die Anachronizität der Figur des Perseus komplett außen vor gelassen werden.

Dagegen wäre unter Umständen wenig einzuwenden. Aber Activision tut etwas, das den CoD-Trailer zu einem politischen Statement macht, ein Statement, das sich auf die heutige Zeit bezieht: es erklärt das Verschwörungsgeraune Bezmenovs zu einer konkreten Gefahr, die auch heute lauert: “Learn your history – or be doomed to repeat it”, sagt der Trailer – und wuchtet das Game somit in den heutigen politischen Diskurs.

Ursprünglich waren auch kurze Szenen vom Tian’anmen-Massaker im Trailer enthalten – sie wurden ohne Begründung entfernt.

Das politische Spiel als Edelprostituierte des Publishing

Auch dagegen ist a priori nichts einzuwenden, zumindest solange nicht, wie das Spiel dann diesen Ball aufnimmt und für mehr als Staffage benutzt – und solange es dies unter einer intellektuell ehrlichen Prämisse tut. Genau das aber, intellektuell ehrlich, ist schon der Trailer wie ich gezeigt habe, eben nicht. Der eventuell also angestoßene politische Diskurs leidet von vornherein unter einer propagandistischen Schlagseite.

Hinzu kommt: Es ist leider – und meine letzte Kolumne streifte das Thema ja – inzwischen so, dass viele AAA-Blockbuster sich ein politisches Mäntelchen umhängen, nur um den ehrlichen Diskurs im Gameplay dann apolitisch zu verweigern: “It’s just a game!” heißt es dann wieder. Das Setting wird vom Publisher eben nicht genutzt, um der Erzählung Tiefe und Relevanz zu verleihen, sondern letzten Endes nur als Verkaufsargument benutzt: in die sexy roten Politklamotten gezwängt, die subtil-dunkelbraunen Kampfstilettos an den Füßen, um es dann auf den Strich zu schicken und viel Geld verdienen zu lassen für den Zuhälter namens Publisher. Ich befürchte, dass CoD da keine Ausnahme sein wird, lasse mich aber gerne eines Besseren belehren. Obwohl … nun, da gibt es erste, nicht so prickelnde Indizien…

Wo es wirklich problematisch wird, das ist für mich, was die Stoßrichtung der Marketingkampagne, wie sie sich im Trailer zeigt, an Branchenkultur repräsentiert. Und wer sich die Kommentare unter dem CoD Trailer-Video anschaut, dem vergeht schnell das Lächeln. Da wird das Video nämlich als “rote Pille” bezeichnet, also jene Pille, die Neo in Matrix nimmt, und die ihm die Augen für die wahre Natur seiner Existenz öffnet.

Catch 22 der Wahrheit

Und so wird aus dem rechtslastigen Verschwörungstheoretiker, der einen alkoholabhängigen KGB-Überläufer zu einer wahrscheinlich fiktiven, weil womöglich als Desinformation erfundenen und ohnehin längst vergreisten Figur befragt, in den Augen heutiger Verschwörungsjünger eine Message an sie: Black Lives Matter, die US-Demokraten insgesamt, diese Libtards, Einwanderer, Ocasio-Cortez ohnehin: alles von Putin gesteuert, alles Ergebnis eines seit Jahrzehnten arbeitenden Plans, der jetzt seine Erfüllung findet. Ein Plan, gegen den für viele dieser vollständig verblendeten Figuren nur noch Waffengewalt hilft. Und der aktuelle US-Präsident, dessen mögliche Abwahl dann natürlich nur ein abgekartetes Spiel sein kann.

Dass derselbe US-Präsident es ist, der allmorgendlich dem Kreml-Herrscher schon vor dem Frühstück den Mastdarm ausspeichelt, ist dabei für ihre Anhänger eher Bestätigung der Theorie als ihre Widerlegung. Inkonsistenz innerhalb von Verschwörungstheorien sind schon längst Ausweis ihrer Authentizität. Wenn die Theorien konsistent wären, dann wären sie konstruiert. Die Wirklichkeit ist nicht konsistent. Also stimmen die Theorien.

Die Wahrheit befindet sich bei diesen Leuten in einem perfekten Catch 22: Wenn sie nachprüfbar ist, ist das ein Zeichen, dass sie gefaket wird. Wer versucht, den Unfug als Unfug zu entlarven, erhärtet so die Theorie. Die inkonsistente Lüge muss ja die Wahrheit sein, gerade weil sie logisch nicht nachvollziehbar ist.

Feuer im Munitionsdepot

Warum, das frage ich mich nicht alleine, bespielt Activision die extreme und psychosozial herausgeforderte Rechte in ihrer Marketingkampagne? Warum geben sie denselben Affen Zucker, die für Gamergate und Incel verantwortlich sind, für Pizzagate, die Q-Onanisten? Und dass diese Wirkung von mir nicht nur eingebildet ist, erkennt man daran, dass Alex Jones höchstpersönlich und psychopathologisch, wie er nun mal ist, auf seinem Infowars-Channel den Trailer aufgegriffen hat. Nein, einen solchen Kübel Unrat verlinke ich sicher nicht, aber Euch, Activision, kann man zu diesem Mediencoup natürlich nur gratulieren.

Ich gehe nicht davon aus, dass das Activision HQ von durchgeknallten Psychopathen beherrscht wird. Die Firma existiert seit 41 Jahren, war der erste Third-Party-Entwickler der Welt und zählt zu den Branchengiganten. Da kommt man nicht hin, wenn man von Menschen geführt wird, die an Echsenmenschen, eine flache Erde, das männliche Grundrecht auf Vergewaltigung, Kinder verspeisende, liberale Eliten und Donald Trump glauben.

Ich nehme also an, dass sie genau wissen, was sie tun, dass ihre Marketingabteilung von Vollprofis geführt wird, dass man sehr genau kalkuliert und wahrscheinlich auch in Fokusgruppentests belegt hat, was man der Fangemeinde da vorsetzt.

Und dieser Trailer kam als Ergebnis heraus: Eine vorne und hinten nicht zusammenpassende Verschwörungstheorie wird nicht etwa von einem Autor erfunden, um das Szenario des Spiels als relevant zu belegen. Nein, man bedient sich einer existierenden, lässt ihr problematisches Verhältnis zur nachprüfbaren Wahrheit komplett weg, schärft sie im Sinne maximaler Werbewirksamkeit also noch zu – und lässt sie dann auf die Öffentlichkeit los. Eine Öffentlichkeit, deren aktuell toxischer und explosiver Zustand den Verantwortlichen bei Activision ja kaum entgangen sein kann.

Wie nennt man Menschen, die in Munitionsdepos Feuer legen?

Seit der „No Russian“-Mission aus Call of Duty: MW 2 ist Provokation Teil der Vermarktungsstrategie von Activision

Eigenverantwortung? Was soll das sein?

Drei Tage nach dem Release des Trailers und der Explosion rassistischen, faschistischen und teilweise offen Gewalt androhenden Wahnsinns in den Kommentarspalten existiert noch kein Statement der Firma dazu. Nicht einmal der Hinweis, dass es sich bei dem Spiel und auch seiner Bewerbung um die Beugung einer existierenden Verschwörungstheorie in eine Spielgegenwelt handelt – und dass man eben nicht im Besitz irgendeiner höheren Wahrheit sei.

Warum, mag man fragen, soll aber Activision Rücksicht nehmen auf die Trottel, die begierig das krank machende Gift der Verschwörung trinken? Darf man sein Publikum nicht für klug genug halten, das Spiel zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu durchschauen?

Doch, man darf. Aber genau das tut Activision ja nicht. Es stellt ja gar nicht die Frage nach der Wahrheit hinter dem Mythos. Es bedient und desinformiert selbst eine Gruppe von Menschen, in deren Mitte nachweislich gewaltbereite Täter lauern. Eine Gruppe, die gewitzigt genug ist, überall kodierte Botschaften an sich selbst zu vermuten. Menschen, die auf EXAKT solche Signale warten, um sie dann als Signal der Unterstützung zu interpretieren, als „rote Pille“ – oder als Aufforderung zur Tat. Ein solches Spiel mit dem Feuer zum – und das ist das mit Abstand wahrscheinlichste Szenario – Zwecke werbeträchtiger Skandalisierung des Trailers ist unverantwortlich.

Man lässt die Giftsuppe auf maximaler Flamme köcheln, und wenn sie detoniert, dann wird es schon nicht das Activision-HQ treffen.

Wir können uns alle Diskussionen um Selbstverantwortlichkeit unserer Branche schenken. Offenkundig besitzen vor allem die sehr großen Mitspieler absolut keine. Ubisoft nicht – und Activision-Blizzard auch nicht. Denn natürlich wird diese Kampagne den gewünschten Erfolg haben, und ja, ich bin mir der Dialektik sehr wohl bewusst, dass alle öffentliche Aufregung und Analyse – also auch diese Kolumne – das böse Spiel mitspielt, das die verantwortlichen, das Leben anderer Menschen kalt ignorierenden Entscheider bei Activision eröffnet haben.

Dem habe ich nur entgegen zu setzen, dass mittel- bis langfristig halt nur Aufklärung dafür sorgen kann, dass solche zynischen Marketingspielchen eben nicht mehr erfolgreich sind. Und deshalb ist man leider gezwungen – vor allem, wenn man wie ich eine kleine Plattform hat – an dieser Aufklärung mitzuarbeiten, selbst wenn ich dadurch kurzfristig den Schaden womöglich ein wenig erhöhe. Aber der Brandstifter im Munitionsdepot heißt Activision und nicht Walk. Der öffnet nur das Fenster, damit man hineinsehen kann.

Freie Rede ist kein Marketingplan

Niemand komme mit dem Argument, das sei free speech und legal. Natürlich ist es legal. Aber der Gesetzesrahmen, den wir haben, der definiert nur das Erlaubte, nicht das Verantwortbare. Es ist ein großes, zerstörerisches Missverständnis, das eine mit dem anderen zu verwechseln. Es war auch mal erlaubt, Sklaven zu besitzen. Wie Ian Bogost schon in einem wichtigen Gamasutra-Beitrag schrieb: “Free speech is not a marketing plan!”

Und dass es tatsächlich mit großer Wahrscheinlichkeit nur ein Marketingplan ist, kann man daran erkennen, dass Activision-Blizzard sich nicht zu blöd war, die erste Version des Trailers wieder zurückzuziehen. In dem war nämlich eine Sekunde lang das berühmte Panzerfoto vom Tiananmen-Platz zu sehen, weswegen die Chinesen den Trailer blockierten – und weswegen Activision dann sofort und das weltweit den Trailer austauschte mit einem, der um diese Szene bereinigt wurde.  Antikommunismus? Na logisch! Aber nur, bis Onkel Xi hüstelt und ein paar hundert Millionen Kundenkontakte auf dem Spiel stehen.

Wie sang schon Sting? „Don’t care if it’s wrong or if it’s right!“ Rechte Verschwörungstheoretiker und chinesischen Totalitarismus gleichzeitig zu bedienen, dafür braucht’s dann schon die ganze Marketing-Erfahrung in der Activision-Maschinerie: ein neuer Videoschnitt wegen einer Sekunde Tiananmen? Rückgrat bitte nur, wenn’s gratis ist. Und die rechte Flanke jubelt ja ohnehin: Xi finden die dufte, nachdem Trump ihn dafür gelobt hat, die Uiguren in Konzentrationslager zu stecken.

Weshalb ich die Frage stellen möchte: Wer fördert das zynische Spiel mit der Öffentlichkeit mehr? Diejenigen, die auf den Zynismus hinweisen und damit kurzfristig das Provokationsinteresse der Activision-Marketingabteilung befriedigen? Oder die, die es durch den Kauf des Games ratifizieren? Ich fordere prinzipiell nie zu einem Boykott auf. Aber die Frage nach der Verantwortung der Konsumenten: die halte ich für sehr legitim.

Und soll ich jetzt wirklich noch Rückschlüsse darauf ziehen, was für eine Firmenkultur innerhalb einer Firma womöglich herrscht, der es offenbar vollkommen egal ist, ob der kalte Bürgerkrieg, der in den USA seit spätestens Obamas Amtsantritt herrscht, ein heißer wird? Natürlich sind das alles nur Mutmaßungen, aber ob der durchschnittliche Activision-Mitarbeiter den Entscheidern mehr Gedanken wert ist als der durchschnittliche Amerikaner, ob der verantwortliche Umgang mit freier Rede innerhalb Activision mehr Beachtung findet als in ihren Marketingkampagnen: das darf doch erheblich bezweifelt werden. Ich jedenfalls würde mich über eine irgendwann einschlagende Enthüllungsreportage nicht wundern.

Let’s play: Decivilization!

Aber auch das muss gesagt werden: die Gamesbranche ist mit dem in ihr pandemisch verbreiteten laissez-faire-Zynismus ja nur ein Spiegel der gesamten Gesellschaft. “There is no such thing as society” hat Maggie Thatcher mal gesagt. In ihrem Auftreten nach außen zeigen Marktteilnehmer wie Activision-Blizzard, was damit gemeint ist: Wenn es die eigene Gier befriedigt, dann ist es unerheblich, welche Konsequenzen für Außenstehende ein Handeln hat. Die sollen sich selbst drum kümmern, nicht zu kurz zu kommen. Es ist ein Spiel weitestgehend ohne Regeln, außer der einen: der Stärkste gewinnt – und er hat die Lizenz zum Ausbeuten von Schwäche und Schwachen.

Es ist ein Spiel, das man Decivilization nennen könnte. Es ist nicht von Sid Meier, nicht von einem der großen Spielepublisher. Es wird in der Wirklichkeit gespielt. Es hat Geld zur zentralen Ressource erhoben, an der alles andere gemessen wird inklusive die schiere Existenz von Menschen – und diese Regel hat nicht der KGB erfunden. Activision wird sich darauf berufen, mit dem Trailer nur die Spielmechaniken dieses Spiels affirmativ umarmt und clever zu einem die zentrale Ressource Geld optimierenden Statement genutzt zu haben.

Ironischerweise zeigen sie dadurch, dass sie selbst aus der Geschichte nichts gelernt haben und – laut eigenem Trailer – also dazu verdammt sind, sie zu wiederholen. Das schöne an Ignoranz ist, dass man gar nicht merkt, wie dumm man ist. Das noch ironischere an dieser speziellen Form der Ignoranz ist, dass Activision mit ihr auch die exakt genauso dummen Shareholder glücklich macht. Die Geschichte allerdings, aus der sie nichts gelernt haben, ist die der sozialen Ungerechtigkeit und daraus resultierendem Faschismus, Rassismus, Genozid und Krieg.

 

Activision und Infinity Ward unterstützten vor kurzem noch die „Black Lives Matter“-Bewegung mit einer Einblendung in Call of Duty: Warzone.

Es sei denn…

Es sei denn, und das wäre ja Stand jetzt immer noch möglich: Activision hat das alles sauber durchdacht – und gesellt der Provokation in den kommenden Tagen oder Wochen einen aufklärenden, den Diskurs nicht nur rettenden sondern sogar auf den Kopf stellenden Kontext her: “Seht her! Das war nur eine wirre Verschwörungstheorie! Ihr habt Euch triggern lassen – und darüber solltet Ihr noch mal nachdenken! Und natürlich stellen wir den Tiananmen-Trailer wieder online!”

Dann, ja dann müsste ich und würde ich gerne jedes der oben geschriebenen Worte zurücknehmen. Dann würde ich eine Sonderkolumne schreiben, die ich unmittelbar hinterher schicken würde, und in der ich zum poeta laureatus von Activision-Blizzard werden würde, das Lob und den Preis der Firma singend.

Das kann eigentlich auch keiner wollen, aber spätestens im November werden wir es wissen.

In diesem Sinne bis zum nächsten Mal.

P.S.: Der neue Trailer ist nicht nur um den Tiananman bereinigt, sondern auch um jede Nennung des Namen Perseus. Eine offizielle Verlautbarung Activisions zu den Gründen finde ich allerdings nirgends. Dass Perseus damit nicht aus dem Spiel verschwunden ist, zeigt die offizielle Gamescom-Präsentation des Spiels, in der er – ebenso wie der großväterlich inszenierte Reagan – eine zentrale Rolle spielt. Und auch ansonsten bestehen die dargestellten Figuren vor allem aus B-Movie-Klischees. Das europäische Auge kann kaum anders, als das ganze für Satire zu halten. Wer den konservativ-amerikanischen Blickwinkel kennt, der möchte allerdings verzweifeln. Der Schaden ist angerichtet.

 

1.) Das Interview mit Bezmenov
https://www.youtube.com/watch?v=jFfrWKHB1Gc

2.) G. Edward Griffin
https://en.wikipedia.org/wiki/G._Edward_Griffin

3.) Perseus
https://www.denofgeek.com/games/call-of-duty-black-ops-cold-war-perseus-explained/

4.) Ian Bogost’s Essay über Free Speech als Marketingmaßnahme:
https://www.gamasutra.com/view/feature/134529/persuasive_games_free_speech_is_.php

5.) Also, wenn das mit der Free Speech dann Geld kostet…
https://www.gamereactor.de/massaker-am-platz-des-himmlischen-friedens-im-trailer-von-call-of-duty-black-ops-cold-war-verschleiert/

6.) Der Call of Duty: Cold War Teaser Trailer
https://www.youtube.com/watch?v=zsBRGCabaog

 

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