Ein alter, weißer Mann – so bezeichnet er sich selbst – namens Hajo Schumacher versucht sich auf Spiegel Online am Computerspiel (Link) als kulturellem Phänomen, scheitert krachend – und ein anderer, noch älterer weißer Mann versucht ihm zu erklären, woran das liegt. Und da die Netzwelt auf SpOn neun Tage lang nicht einmal mit einer kurzen Absage auf die von mir verfasste Antwort an Hajo Schumacher reagiert hat – selbst auf Nachhaken nicht – gibt’s jetzt ein kurzes, knackiges Wortreich Extra gleichen Inhalts.
Denn dieser alte weiße Mann hier designt Games – und eben nicht nur Brettspiele, sondern seit den mittleren 90er Jahren und hauptberuflich Videospiele. Und – full disclosure – er hält Hajo Schumacher nicht für einen dieser in der Boomer-Generation leider allzu verbreiteten Dummköpfe, für die von Fridays for Future bis TikTok alles nur ein Zeichen von Niedergang ist. In der Regel liest Schumachers Beiträge gern. Und deshalb glaubt dieser weiße alte Mann, dass der Artikel es vielleicht wert wäre, in einen Diskurs einzusteigen.
Man kann es Hajo Schumacher tatsächlich abnehmen, dass er ernsthaft versucht hat, hinter das Phänomen Videospiel zu kommen, es zu verstehen. Jetzt, da es sich als hartnäckig erwiesen hat und nicht als vorübergehende Zeiterscheinung, da es sogar zur nicht nur umsatzstärksten, sondern ohne Zweifel auch wirkmächtigsten Kunstform des Planeten aufgestiegen ist – was er ja ohne übermäßigen Neid anerkennt – fragt sich Schumacher tatsächlich, was es mit dieser so lange belächelten und sogar bekämpften Form eigentlich auf sich hat. Und er spart dabei auch nicht an Selbstironie und Selbstkritik:
“Seit Jahrzehnten”, schreibt er, “lehne ich Computerspiele ab. Ich schiebe kulturelle Bedenken vor („Ballerspiele“), fürchte in Wirklichkeit aber vor allem meine Unfähigkeit. Ich beherrsche dieses gleichzeitige Gefummel an acht Knöpfen einfach nicht, was entwürdigend ist für einen alten weißen Mann, der sich ja dadurch auszeichnet, dass er praktisch alles draufhat: Grillen, Rotwein, Bohrmaschine, „Siedler von Catan“. Nur Computerspiele nicht. „Tetris“ war mein Ein- und Ausstieg. Glotzten meine Kinder stundenlang auf den Bildschirm, habe ich gezürnt, gelästert und den Untergang des Abendlandes ausgerufen. Was ich nicht kenne, lehne ich ab.”
An der Wurzel der Tragödie liegt immer die Weigerung
Letzteres passt nicht in sein Selbstbild, und also wagt er den Selbstversuch, sowohl zunächst als Spieler wie auch in der Folge als Zuschauer eines Let’s Plays; und – kein Wunder – ist am Ende so klug als wie zuvor.
Um es vorweg zu nehmen: Sein Scheitern liegt nicht am Spiel als feinmotorischer Herausforderung. Es liegt auch nicht am unüberwindbaren Unwillen Schumachers. Er nähert sich dem Thema mit dem notwendigen Humor und der Bereitschaft hinzuzulernen. Warum also klappt es dann am Ende nicht? Warum siegt der Fatalist in ihm, dem nichts anderes bleibt, als die Spielsucht zu verdammen und sich ein bisschen – jetzt, wo die Kinder groß sind – selbst anzukreiden, nicht genügend eingeschritten zu sein? Wieso endet der Versuch, das Phänomen zu verstehen, so kläglich?
Es gibt einen entscheidenden Passus im Text, an dem die Komödie in die Tragödie kippt, an dem sich entscheidet, dass der Autor am Thema scheitern wird. Er stellt eine Frage und lässt sie unbeantwortet, weigert sich, da nachzuhaken, wo es weh tut. Ich denke, der Artikel, die Konfrontation mit dem Neuen, mit Games, wäre anders ausgegangen, wenn er an dieser Stelle weitergebohrt hätte:
“Ich bin in einen Fluss gestürzt”, erzählt er über eine Erfahrung in Red Dead Redemption 2, “Das Pferd ertrinkt. Wie grausam. Ich fühle mich schlecht, auch wenn der Klepper schon wieder am Ufer schnaubt. Das Tier lebt. Wie abgebrüht muss man sein, um dieses pausenlose Sterben zu ertragen, denke ich und ziele mit meinem Revolver auf die Herzgegend eines Banditen. Dann drücke ich ab und fühle mich wie ein Amokläufer.”
Die Tabuisierung des pausenlosen Sterbens…
Ja. Wie abgebrüht muss man sein, das pausenlose Sterben zu ertragen, selbst zum Mörder zu werden? Die Frage lässt Schumacher im Raum stehen, aber an ihr offenbart sich das gesamte Problem in der Kommunikation meiner Generation mit der jüngeren. Denn die jüngere Generation ist keineswegs abgebrühter. Sie geht nicht nachlässiger mit Leben um als unsere, die ja allen Umfragen zufolge den deutlich größeren Anteil an AfD-Wählern und Masken- und Klimafolgen-Verweigerern aufweist.
Was hier aufscheint ist ein vollständig anderes Verständnis dafür, welche Rolle Spielen im Leben hat, ja, wozu Spielen überhaupt dient. Und was die Form des Spiels aus einem Vorgang wie Sterben macht. Denn das Sterben in einem Spiel hat nicht mehr mit dem Tod zu tun, als der Pflaumenbaum in Brechts Gedicht “Erinnerung an die Marie A.” mit einer Vagina: Es ist Metapher, Metapher für Sieg oder Niederlage. Und das war schon so, als Hajo Schumacher noch Räuber und Gendarm gespielt hat. Wovon ich jetzt einfach mal ausgehe. Und: das Gedicht müsst Ihr schon selbst googeln. Lohnt sich aber.
Runter vom Pflaumenbaum, zurück zum Tod als Metapher. Denn genau darum geht es ja ursprünglich dem Spiel als kulturellem Phänomen: eine sichere Alternativwelt zu schaffen, in der die eigene Niederlage eben nicht der Tod ist, sondern ihn nur symbolisiert und – genauso wichtig – der eigene Sieg zumindest in einer gelingenden Sozialisation nicht den Tod des Gegners bedeutet, sondern den Respekt des Siegers gegenüber dem Besiegten einfordert, Reintegration des Besiegten in Würde ermöglicht und soziale Herausforderung wird. Verlieren zu lernen ist wichtig. Gewinnen zu lernen ist wichtiger.
… erleichtert seine Verwirklichung in der Realität.
Alle höheren Lebewesen spielen: Säugetiere, Rabenvögel und Papageien, Oktopoden. Unter denen hat nur der Mensch das Spiel in einem Akt ökonomisch-militaristischer Effizienzoptimierung so gut wie vollständig in den Bereich des Kinderkrams geschoben: meine Generation noch hat mit 12 oder 13 mehr oder weniger aufgehört zu spielen. Danach war Gymnasium, Wehrdienst, Studium, Beruf. Spiel wurde zum Sport. Der Ernst des Lebens. Räuber und Gendarm war vorbei.
Dieses Muster hat die Generation der nach 1980 Geborenen aufgebrochen – und das mag sich als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Veränderungen der Jetztzeit erweisen: dass der eigene Tod als Möglichkeit nicht länger mit dem Beginn der Pubertät wegtabuisiert wird – mutmaßlich damit die Menschen fähig werden, die eigene Vernichtung an der Front, im Kohleflöz oder per Herzinfarkt am Schreibtisch zu verdrängen – sondern dass es eine beinahe tägliche Anwesenheit dieser Möglichkeit des eigenen Endes gibt, und dass dies gar nicht notwendigerweise verrohend wirkt, sondern in einem gut erzählten Kontext sensibilisierend und sinnstiftend sein kann.
Und das hat weniger mit dem “digitalen Süßwarenangebot” zu tun, das Schumacher nicht völlig zu Unrecht beklagt. Denn klar, das gibt es, es ist verführerisch und im Zweifelsfall auch nicht gut für die körperliche oder geistige Gesundheit, wenn im Übermaß genossen. Hier sind, das bezweifelt niemand ernsthaft, Gesellschaft, Eltern und aber auch die Gamesindustrie gefordert, sich im Jahre 48 nach Pong ernsthaft mit den begleitenden Suchtproblemen auseinanderzusetzen. Wobei die sich im übrigen nicht nur auf das Game beschränken, sondern auf das gesamte Phänomen einer für alle offenen Medienwelt erstrecken, in der jeder nicht nur Empfänger sondern auch Sender sein kann.
Und mal wieder: Umberto Eco
Denn es ist nicht die Spielsucht – hinter deren argumentative Burgmauern sich Schumacher am Ende leider zurückzieht – welche die Kultur dieser Welt verändert. Es ist das Spiel als nicht nur extrem populäre, sondern auch erste, im Ecoschen Sinne an und für sich offene Kunstform zweiten Grades: als Kunstform, in der die einzelnen Werke erst vom Rezipienten zur Vollendung und in ihre von Spieler zu Spieler und Spiel zu Spiel verschiedene endgültige und gleichzeitig sehr vorläufige und vergängliche Form gebracht werden. Das Videospiel existiert ohne den Spieler als Form nicht. Ein Bild bleibt ein Bild, ein Film ein Film, ein Buch ein Buch, auch wenn die gerade niemand betrachtet, anschaut, liest. Ein Videospiel hört als Kunstform auf zu existieren, wenn es gerade nicht gespielt wird. Es ist dann nur noch ein sehr langer, sehr kryptischer Text, den nur Computer wirklich am Stück lesen können. Aber es gibt noch einen weiteren, verwandten und entscheidenden Unterschied:
Das Videospiel ist die erste an sich nicht-autoritäre Kunstform, eine, in der die Hierarchie zwischen Kunstschaffendem und Rezipienten sich weitgehend auflöst. Und dies erstreckt sich sogar auf die Regeln des Spiels und die Grafiksets selbst, die von sogenannten “Moddern” bis teilweise zur Unkenntlichkeit verändert werden. Als solche Modifikationen, kurz “Mods” genannt, begannen große Spiele, die heute selbst Klassiker sind: Portal und das viel denunzierte Counter Strike basieren auf “Half-Life”. Das Werk selbst gebiert über die Rezipienten neue Werke, die mehr sind als nur Interpretationen, Cover-Versionen, Variationen desselben Themas. Das Gameplay von Portal und Half-Life unterscheidet sich fundamental. Die Offenheit des Kunstwerks erstreckt sich nicht nur auf das Interpretieren, sondern auf das vollständige Umformen, eine Radikalität des Umgangs mit dem Werk, die auch Umberto Eco 1962 noch nicht vorhersehen konnte: eine Offenheit dritten Grades, wenn man so will.
Das Unverständnis Schumachers ist das eines von autoritären Denkstrukturen noch immer nicht völlig befreiten Menschen (nein, ich unterstelle keine Sympathie mit diesen Denkstrukturen), der die beiden entscheidenden Fragen eben nicht stellt: Warum habe ich solche Angst vor dem rein symbolischen Tod? Und was machen die jungen Leute besser, dass ihnen der Umgang damit so viel natürlicher gelingt?
Eine durch und durch revolutionäre Kunstform
Das Spiel als Massenmedium ist eben nicht nur digitales Zuckerzeug. Es ist Zeichen einer Auflösung von Hierarchie, einer umfassenden Demokratisierung von Kunst und Kommunikation. Und das ist keine theoretische Mutmaßung, das ist empirische Beobachtung: es ist kein Zufall, dass die Entwicklung des Internets und des Computerspiels als Massenphänomen Hand in Hand gingen. Das Spiel ist auch nicht nur Ergebnis seiner technischen Produzierbarkeit. Das Spiel ist soziale und kulturelle Simulation und Erkenntnismaschine, es ist unter seiner bunten Fassade nicht nur als Phänomen, sondern auch als Form und zunehmend sogar im Inhalt politisch.
Und darauf aufbauend könnte und sollte sich Schumacher dann vielleicht auch die daraus folgenden Fragen stellen: Was macht dieser demokratisierte Umgang mit Kunst, die Emanzipation des Rezipienten vom Autor, die Perpetuierung des Spiels als Erkenntnismöglichkeit ins Erwachsenendasein, die Simulation nicht nur des Todes sondern auch von Fragen mit erstaunlicher ethischer Komplexität (man spiele Papers, Please, This War of Mine oder Through the Darkest of Times) mit den Rezipienten? Was macht diese neuerdings ständig präsente Kulturtechnik tatsächlich mit dieser Gesellschaft? Ist das alles wirklich Grund für Kulturpessimismus? Und wieviel kann ich – im Gegensatz dazu – mit “Grillen, Rotwein, Bohrmaschine” beitragen zum neu zu formulierenden Sozialvertrag in Zeiten des Internets, dem größten Kommunikations- und Sozialexperiment der Menschheitsgeschichte, in dem wir nun mal stecken, ob uns das passt oder nicht?
Ich bin selbst alt genug um zu wissen, dass Humor gefährlich wird, wenn er in fatalistische Belustigung umschlägt. Und jemanden wie Schumacher könnten wir auf der nicht-fatalistischen Seite des Diskurses recht eigentlich gut gebrauchen.
In diesem Sinne bis zum nächsten Mal.